Akutes Koronarsyndrom (Folge 9)

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Zu Beginn der neuen Shownotes möchten wir uns zunächst entschuldigen, dass es so lange still um unseren Podcast und die Social-Media-Kanäle bei uns war. Auch in der Lehrtätigkeit im Gesundheitswesen waren und sind die Auswirkungen der Pandemie deutlich zu spüren. Immer wieder mussten spontan und ohne viel Vorlaufzeit Lernformate geändert werden oder Veranstaltungen wurden verschoben oder umgeplant. Das hat uns alle drei mehr eingespannt, als wir vermuten konnten. Darüber hinaus kamen die ein oder anderen Quarantäne-Maßnahmen und Krankheitstage dazu, sodass unsere Aufnahmetermine sich immer weiter verschoben haben. Dafür ein ganz dickes Entschuldigung! Wir möchten uns daher nicht nur mit einer neuen Folge zurückmelden, sondern auch mit einem kleinen Gewinnspiel für euch. Beantwortet uns dazu einfach die nachfolgende Frage per Instagram, Twitter oder über die Kontaktseite auf unserer Homepage: „Wie oft wurden all unsere Folgen seit Beginn des Podcasts insgesamt  – egal auf welcher Streamingplattform – schon gehört?
Die beiden Teilnehmenden, die mit ihrem Tipp am nächsten an der richtigen Zahl dran sind, bekommen eine original und streng limitierte FEIN DOSIERT Emaille Tasse von uns geschenkt. Das Gewinnspiel läuft noch bis zum 14.02.2021. Mitmachen lohnt sich auf jeden Fall!

Nun aber zurück zu der nächsten Folge:

Immer wieder erreichen uns Anfragen mit Themenvorschlägen für neue Folgen. Für das kommende Jahr haben wir uns vorgenommen, einige dieser Vorschläge aufzugreifen und fangen direkt damit an. Wie gewohnt haben wir eine Bolusgabe mit den wichtigsten Grundlagen zusammengepackt. Passend zum Notfallbild drücken wir die Notfallspritze hinterher und beim „Blick in die Bibliothek“ nehmen wir für euch einen Blickwinkel ein, der manchen so sicherlich noch nicht präsent war. Viel Spaß und danke für eure Treue! Los geht’s:

Anatomische eigenschaften des Herzens

Als die Aufgabe des Herzens können wir sagen, sorgt es dafür, dass das durch den Körper zirkulierte und nun sauerstoffarme Blut in die Lunge transportiert wird um es anschließend gesättigt wieder dem Körper zur Verfügung zu stellen. Das Herz dient dem Körper somit als Motor. Schauen wir uns nochmal kurz das Herz in seiner Anatomie an. Es liegt mit 2/3 im linken, mit 1/3 im rechten Thorax. Es befindet sich im sogenannten Mediastinum. Ein gesundes Herz beim Erwachsenen wiegt ca. 200-300gr, je nach Geschlecht. Ungesunde Lebensweisen, große Belastung (z.B. Spitzensport) oder pathologische Prozesse führen zu einer Vergrößerung oder Veränderung des Herzens.

Der Aufbau der Herzwand besteht aus drei Schichten, welches sich in einem Herzbeutel, dem Perikard befindet. Einfach gesagt von innen nach außen gesehen gibt es eine Innenhaut (Endokard), Muskelschicht (Myokard) und die Außenhaut (Epikard). Betrachten wir uns mal das Myokard, also den Herzmuskel näher. Dieser gilt als „arbeitende“ Schicht, deshalb hat die linke Herzkammer die stärkste Muskelschicht, da von hieraus das Blut in den Körper gepumpt wird. Die Herzmuskelfasern haben eine Sonderfunktion zwischen glatter und quergestreifter Muskulatur.

Pro Herzhälfte befinden sich ein Herzvorhof und eine Herzkammer. Herzscheidewände (Septum) unterteilen das Herz in unterschiedliche Bereiche. Hier sprechen wir vom Vorhofseptum und Kammerseptum. Besteht hier ein Defekt, wird dies als Septumdefekt bezeichnet und ein Links-Rechts-Shunt entsteht. Diese können operativ behoben werden.

Weiter besitzt das Herz ein Klappensystem, bestehend aus Segelklappen und Taschenklappen. Die Segelklappen trennen Vorhof von Kammer und sorgen für einen physiologischen Blutfluss Richtung Kammer. Die Taschenklappen befinden sich an den Kammern und schließen die Öffnung jeweils zum Truncus Pulmonalis und zur Aorta. Wird das Blut aus der Kammer ausgetrieben, öffnen sich die Klappen und das Blut strömt in das jeweilige Gefäß. Die Klappen entspringen alle auf einer Ebene, der sogenannten Ventilebene. Diese spielt auch in der Elektrophysiologie als Trennung eine Rolle.

Das Herz selbst wird durch zwei große Gefäße, die rechte (RCA) und linke (LCA) Koronararterie, versorgt. Diese zweigen unmittelbar nach der Aortenklappe von der Aorta ab. Die RCA zieht, wie der Name sagt, entlang der rechten Herzhälfte und versorgt hier den Vorhof, die Kammer, einen kleinen Bereich der Kammerscheidewand sowie die Hinterwand. Die LCA teilt sich aus dem Hauptstamm zügig in zwei „Hauptgefäße“, die RCX (Ramus circumflexus) und die RIVA (Ramus interventricularis anterior). RCX verläuft um das Herz nach hinten, RIVA zieht sich Richtung Herzspitze. Diese versorgen meist linksseitig Vorhof, Kammer, Scheidewand und Bereiche der Hinterwand. Von RCA, RCX und RIVA zweigen jeweils kleinere Gefäße ab, um das gesamte Herz zu versorgen. 1Luxem, J., Runggaldier, K., Karutz, H., Falke, F. (2020). Notfallsanitäter Heute. Elsevier Verlag

Das Akute Koronarsyndrom mit allen Facetten

Als größter Risikofaktor für das ACS gilt die koronare Herzkrankheit (KHK). Sie entsteht durch Ablagerungen an den Gefäßwänden und schränken die Durchblutung des Myokards an. Epidemiologisch betrachtet gilt die KHK als häufigstes Todesurteil in Industrieländern. In Deutschland führt die KHK die Liste der häufigsten Todesursachen mit rund acht Prozent an.

Das Leitsymptom der KHK ist die Angina Pectoris (Burstenge). Sie äußert sich durch retrosternale Schmerzen, die je nach Patient*in auch in benachbarte Regionen wie Schulter, Nacken, Arme, Kiefer und Oberbauch ausstrahlen können. Die Angina Pectoris (AP) wird in eine stabile und instabile Form unterteilt. Häufig geht mit der Symptomatik der stabilen AP auch eine Dyspnoe einher. Durch körperliche und psychische Anstrengungen erhöht sich der myokardiale Sauerstoffverbrauch2Luxem, J., Runggaldier, K., Karutz, H., Falke, F. (2020). Notfallsanitäter Heute. Elsevier Verlag. In Ruhe hingegen sind die Patient*innen in der Regel symptomfrei und nicht beeinträchtigt. Diese Belastungsschwelle ist dabei sehr individuell.

Sonderformen der Angina Pectoris (nach Auftreten)
Prinzmetal-Angina: Entsteht durch Spasmen der Koronargefäße, welche sich belastungsunabhängig entwickeln. Daraus resultiert eine kurzzeitige Myokardischämie, die im EKG durch reversible ST-Strecken-Hebungen detektieren lässt.
Angina nocturna: Tritt häufig nachts und/oder im Liegen auf. Durch die horizontale Lage des Körpers und den dadurch erhöhten venösen Rückstrom zum Herzen führt zu einer gesteigerten Volumenbelastung des Herzens und löst die typischen Symptome aus. Nach Lageveränderung mit erhöhtem Oberkörper sind die Symptome rückläufig.
Walking-Through-Angina: Die bei Beginn einer Belastung auftretenden Beschwerden sistieren im Verlauf der anhaltenden Belastung. Grund hierfür ist die Freisetzung körpereigener vasodilatierender Substanzen.

Da die instabile AP gerade in der Präklinik nicht von einem NSTEMI unterschieden werden kann, zählt man diese Form zur Arbeitsdiagnose „Akutes Koronarsyndrom“. Unter dem Begriff Akutes Koronarsyndrom (engl. ACS – acute coronary syndrome) wird eine kardiologische Arbeitsdiagnose beschrieben und vereint die Akutformen von drei akuten Krankheitsbildern:

Im Gegensatz zur stabilen Form definiert sich die instabile AP als eine myokardiale Ischämie, die schon in Ruhe auftritt. Eine sichere Diagnosestellung, ob es sich um eine instabile AP handelt oder doch um einen Myokardinfarkt, sind klinische Laborparameter (u.a. kardiales Troponin) notwendig. Präklinisch sind solche symptomatischen Patient*innen also zu behandeln, als leiden sie an einem akuten Infarktereignis7.

Beim akuten Myokardinfarkt (AMI) kommt es durch verschlossene Koronargefäße zum Absterben myokardialer Muskelzellen – es entstehen Nekrosen. Die häufigste Ursache für die Verlegung der Koronargefäße ist die sog. Plaquesruptur (Myokardinfarkt Typ 1). Durch die arteriosklerotischen Veränderungen der Koronargefäße reißt das Endothel auf. Thromben lagern sich an den beschädigten Stellen an und führen in den feinen Gefäßsystemen zu einem Verschluss. Die Folge: es kommt zur Sauerstoffunterversorgung der nachfolgenden Herzareale.

Neben dem Typ 1 kann ein Infarkt auch ohne Plaquesruptur entstehen. Ausschlaggebend für die pathologischen Veränderungen am Herz ist dann die Sauerstoffunterversorgung durch andere Ursachen. Herzrhythmusstörungen und schwere Schockzustände führen zu verminderter Durchblutung am Herzen und damit in Folge zu hypoxischen Schäden des Myokards. Auch respiratorische Insuffizienz kann in Kombination mit reflektorisch ansteigender Herzfrequenz einen Infarkt auslösen3Luxem, J., Runggaldier, K., Karutz, H., Falke, F. (2020). Notfallsanitäter Heute. Elsevier Verlag.

Präklinisch unterscheidet man den akuten Myokardinfarkt einen NSTEMI und einen STEMI. Der NSTEMI (Non ST-segment-elevation myocardial infarction)  zeichnet sich durch fehlende ST-Strecken Hebungen im 12-Kanal-EKG aus. Häufig ist bei dieser Form überwiegend die innere Schicht der Herzmuskulatur (Endokard) betroffen. Es können hier aber andere EKG-Veränderungen wie bspw. ST-Senkungen auftreten.

Der STEMI (ST-segment-elevation myocardial infarction) zeichnet sich dadurch aus, dass die von Sauerstoffmangel betroffenen Gebiete sich durch alle Herzmuskelschichten ziehen (transmuraler Infarkt). Diese pathologischen Prozesse machen sich im EKG durch die Anhebung der ST-Strecke bemerkbar.

Besteht durch die Symptomatik oder Anamnese der Verdacht auf eine kardiale Beteiligung, so muss spätestens 10 Minuten nach Erstkontakt mit den Patient*innen ein 12-Kanal-EKG abgeleitet, ausgedruckt und interpretiert werden! Weiterhin müssen die Vitalwerte bis zum Eintreffen in der Zielklinik engmaschig überwacht und dokumentiert werden8.

Gefahren während der Präklinischen Behandlung:

Je nach Verschlussgebiet des Infarkts können Herz-Rhythmusstörungen in Folge eines akuten Infarktgeschehens auftreten. Ventrikuläre Tachykardien bis hin zum Kammerflimmern stellen eine häufige Todesursache in der Akutphase dar4Luxem, J., Runggaldier, K., Karutz, H., Falke, F. (2020). Notfallsanitäter Heute. Elsevier Verlag. Aber auch bradykarde Rhythmusstörungen können auftreten, wenn die Abschnitte des Reizbildungs- und weiterleitungssystems durch die Ischämie geschädigt werden.

Kommt es durch eine fulminante Infarktgröße zum weitgehenden Funktionsausfall der Herzmuskelzellen und damit einhergehend zum Verlust der Kontraktilität des Herzens, versagt als Folge dessen der Kreislauf. Der infarktbedingte kardiogene Schock tritt in rund 10% bei Patient*innen mit akutem Myokardinfarkte auf 5Werdan, K. et al. (2020). Kurzversion der 2. Auflage der Deutsch-Österreichischen S3-Leitlinie „Infarktbedingter kardiogener Schock – Diagnose, Monitoring und Therapie“. Der Kardiologe (14) S. 264-395. Springer Verlag. Auch die regelmäßige Blutdruckmessung zur frühzeitigen Detektion einer Hypotonie ist daher von hoher Bedeutung bei der präklinischen Versorgung. Organisatorisch muss schon in der frühen Phase dieser Einsätze ein geeignetes Zielkrankenhaus gefunden und über den neuen Patienten informiert werden.

Infarktlokalisation

Inferiorer Infarkt

Als Synonym wird hier vom Hinterwandinfarkt gesprochen. Genau ist jedoch häufig der untere Bereich betroffen und nicht die klassische Hinterwand. Beim STEMI zu erkennen im EKG mit ST-Hebungen in den Ableitungen II, III, aVF. Der Verschluss ist meist in der RCA, wodurch es auch je nach Ausprägung und Höhe des Verschlusses zu Beteilung der Reizleitungsbahnen kommen kann und somit bradykarde Rhythmusstörungen die Folge sein können. Bei dem Verdacht auf eine Rechtsherzbeteiligung sollte man an die EKG Ableitungen Vr3 – Vr6 (spiegelverkehrte Brustwandableitungen) denken. Der Verdacht der Rechtsherzbeteiligung zeigt ja auch eine signifikante therapeutische Konsequenz. Immer daran denken, beim Schreiben von Vr3 – Vr6 muss dieser EKG Ausdruck eindeutig gekennzeichnet werden!!!

Posteriorer Infarkt

Der eigentliche, korrekt bezeichnete, Hinterwandinfarkt kann unter Umständen leichter übersehen werden. So können hier in den Brustwandableitungen z.B. V1-V3 ST-Senkungen und auffallend positive R-Zacken zu sehen sein. Hier sollte daran gedacht werden, die spiegelbildlichen Ableitungen zu bewerten.

Vorderwandinfarkt

Wie der Name schon sagt, ist hier die Vorderwand, die Herzspitze oder die vordere Seitenwand betroffen. Je nach Höhe des Verschlusses in der RIVA und deren Abzweigungen sind die EKG Veränderungen in anderen Ableitungen sichtbar. Aber in unterschiedlichen Formen sind die V- Brustwandableitungen beteiligt. Beachtet werden sollten aber auch die anderen Ableitungen. So können bei anteriolateralen Infarkten, also vorne seitlich liegend die ST-Hebungen in den Ableitungen I und aVL zu sehen sein. Bei der Auswertung des 12 Kanal EKG’s sollte immer daran gedacht werden, dass sich bei sichtbaren Senkungen die ST-Hebung auf der kontralateralen Seite befinden kann. 6Schnelle, R. (2017). EKG in der Notfallmedizin. Stumpf & Kossendey Verlag

Um zu verhindern, dass der Klumpen im Herzkranzgefäß weiter wächst, geben wir zwei (bis drei) spezielle Medikamente. Aspirin und Heparin (und Clopidogrel). Aber warum zwei bis drei Medikamente für ein Ziel? Unsere Blutgerinnung nutzt zwei Wege, um einen Wundverschluss zu erzielen. Die primäre und die Sekundäre Blutgerinnung. In der primären Blutgerinnung verschließen die Blutplättchen, auch Thrombozyten genannt, die Wunde. Dazu klammern sie sich an den Wundrändern und aneinander fest. Die Sekundäre Blutgerinnung ist ein kompliziertes Zusammenspiel von Gerinnungsfaktoren. Am deren Ende steht das fadenförmige Fibrin. Das verknotet die Thrombozyten und sorgt damit für einen festen Halt.7Walzog B, Fandrey J. Blutstillung, Blutgerinnung und Wundheilung. In: Pape H, Kurtz A, Silbernagl S, Hrsg. Physiologie. 8., unveränderte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018. doi:10.1055/b-006-149284

Da setzen dann auch die beiden Medikamente an. Aspirin hemmt ein Enzym, das Thromboxan herstellt – die Cyclooxigenase (COX). Ohne Thromboxan können die Blutplättchen sich nicht mehr aneinander festhalten. Die Primäre Blutgerinnung wird somit gestört.

Heparin greift in der Kaskade der sekundären Blutgerinnung ein. Es zerstört Prothrombin, das für die Produktion des lassoartigen Fibrins sorgt. Thrombozyten, die sich verklumpt haben, werden so also nicht fest zusammengeschnürt.

Entgegen der langläufig bekannten Dosis von 500mg und 5000IE, sehen die Leitlinien andere Dosierungen vor. In der STEMI-Leitlinie der DGK von 2017 werden 150-300mg oral bzw. 75-250mg iv vorgeschlagen. Heparin wird gewichtsadaptiert mit 70-100IE / kgKG angegeben. Dadurch kann die Dosis deutlich von den 5000IE abweichen.

kg KG70IE100IE
402800 IE4000 IE
453150 IE4500 IE
503500 IE5000 IE
553850 IE5500 IE
604200 IE6000 IE
654550 IE6500 IE
704900 IE7000 IE
755250 IE7500 IE
805600 IE8000 IE
855950 IE8500 IE
906300 IE9000 IE
956650 IE9500 IE
1007000 IE10000 IE
1057350 IE10500 IE
Dosiertabelle für Heparin

Als Kontraindikation gelten alle Blutungen. Logisch, denn durch die Blokade der Blutgerinnung hören die ja nicht mehr auf zu bluten. Also Vorsicht bei Magen-Darm-Blutungen oder bei einer Hirnblutung in den vergangenen Wochen. Aber noch viel wichtiger sind die Kontraindikationen Asthma und HIT in der Vorgeschichte.

Eine gefürchtete Nebenwirkung von Aspirin ist nämlich ein Asthmaanfall. Die Cyklooxigenas (COX) baut Arachidonsäure ja in Thromboxan um. Wird dieses Enzym gehemmt, entsteht kein neues Thromboxan. Wird die Arachidonsäure nicht mehr umgewandelt, wird sie zu Leukotrien zersetzt. Einem Stoff, der in der Lunge zu einer Bronchokonstriktion führt. Sensible Personen können so einen Asthmaanfall erleiden.

Auch Heparin hat eine gefürchtete Nebenwirkung. In seltenen Fällen kann der Körper durch an Thrombozyten gebundenes Heparin als feindlich erkennen. Wie ihr aus unserer Immun-Folge wisst, beginnt der Körper also sofort mit der Produktion der Antikörper. So werden die Thrombozyten zerstört. Eine effektive Blutgerinnung ist nicht mehr möglich. Man spricht von der heparininduzierten Thrombozytopenie (HIT).

In unserem aktuellen Blick in die Bibliothek möchten wir euch ganz bewusst auf ein sehr spannendes Thema hinweisen. Es geht um sogenannte Daten-Lücken, oder anders ausgedrückt Data-Gaps. Hierbei wird die Differenz der Datenlage von Frauen und Männern beschrieben. Diese fehlenden Informationen über Aspekte des Lebens von Frauen sind im Alltag sehr facettenreich. So lassen sich in sozioökonomischen Bereichen beispielsweise die Ungleichheit von Lohn oder Bildung ausmachen (Gender Pay Gap, Gender Education Gap)8Kuhlmann, E. (2016). Gendertheorien. In Kolip, P. & Hurrelmann, K. (Hrsg.): Handbuch Geschlecht und Gesundheit – Männer und Frauen im Vergleich. Hogrefe, S.20-34.. Auch in der medizinischen Forschung lassen sich geschlechtsbezogenen Datenlücken erkennen. So werden einerseits Lehrbücher und andererseits auch die Ausbildung von Rettungsfachpersonal und Medizinstudent*innen genderspezifische Themen nur wenig berücksichtigt9Dijkstra, A., Verdonk, P., & Lagro-Janssen, A. (2008). Gender bias in medical textbooks: examples from coronary heart dissease, depression, alcohol abuse and pharmacology. In Medical education 42(10), S.1021-1028.. Lediglich an der Charité in Berlin gehört Gender Medicine im Studium zum Pflichtfach.
Gerade im Hinblick auf die Symptome und Therapie ist es durchaus auch für rettungsdienstliches Personal von hoher Bedeutung, diese Unterschiede zu kennen und richtig in die Anamneseerhebung einzubinden.

Die Hauptrisikofaktoren für eine koronare Herzkrankheit sind bei Frauen und Männern grundlegend die gleichen: Bluthochdruck, Rauchen, Diabetes Mellitus, Stress, sowie Bewegungsmangel und Übergewicht10Alexander, N. (2017). Geschlechtsunterschiede bei koronarer Herzkrankheit in Europa. Healthcare-Professionals-Factsheet. EU Publications..

Rauchen: Gerade junge Raucherinnen sind besonders gefährdet, wenn zum regelmäßigen Tabakkonsum zeitgleich die Einnahme oraler Antikontrazeptiva einhergeht. Diese Kombination kann das Herzinfarktrisiko auf das bis zu 23-fache steigern11Regitz-Zagrosek, Vera; Espinola-Klein, Christine (2006): Schlagen Frauenherzen anders? In: Kardio up 2 (03), S.255–269. DOI: 10.1055/s-2006-944799.. Doch auch unabhängig vom Alter der rauchenden Frauen liegt das Risiko, an einer KHK zu erkranken im Vergleich zu männlichen Rauchern um 25% höher12Garcia, Mariana; Mulvagh, Sharon L.; Merz, C. Noel Bairey; Buring, Julie E.; Manson, Joann E. (2016): Cardiovascular Disease in Women: Clinical Perspectives. In: Circulation research 118 (8), S.1273–1293. DOI: 10.1161/CIRCRESAHA.116.307547.

Diabetes Mellitus (DM): Auch die Zuckerkrankheit korreliert bei Frauen mit einem wesentlich höheren Risiko auf Herzerkrankungen als bei Männern. Man geht davon aus, dass das Risiko für eine KHK bei an DM erkrankte Frauen um über 40% höher ist als bei männlichen Erkrankten13Juutilainen, Auni; Kortelainen, Saara; Lehto, Seppo; Rönnemaa, Tapani; Pyörälä, Kalevi; Laakso, Markku (2004): Gender difference in the impact of type 2 diabetes on coronary heart disease risk. In: Diabetes care 27 (12), S.2898–2904. DOI: 10.2337/diacare.27.12.2898.. Ursache dafür könnten gravierendere Auswirkungen der Hypertonie sowie erhöhte Blutfettwerte bei diabetischen Frauen sein. Medikamentöse Therapien, die bei Männern getestet wurden, werden unreflektiert auf Frauen übertragen, ohne Anpassungen vorzunehmen. Die Ansätze in der Therapie müssen daher aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden.

In gleicher Weise der oben genannten Beispiele lassen sich auch bei den Faktoren „Fettleibigkeit und körperliche Inaktivität“ und „Hormonen“ deutliche Unterschiede in der Risikoausprägung zwischen Männern und Frauen finden. Auch dem Zusammenhang von KHK und Schwangerschaftskomplikationen, wie z.B. Präeklampsie, Schwangerschaftsdiabetes und schwangerschaftsinduzierter Hypertonie misst die AHA große Bedeutung zu14Mosca, Lori; Benjamin, Emelia J.; Berra, Kathy; Bezanson, Judy L.; Dolor, Rowena J.; Lloyd-Jones, Donald M. et al. (2011): Effectiveness-based guidelines for the prevention of cardiovascular disease in women–2011 update: a guideline from the american heart association. In: Circulation 123 (11), S.1243–1262. DOI: 10.1161/CIR.0b013e31820faaf8.. In Bezug auf die hormonellen Veränderungen sind bei Frauen besonders die Wechseljahre zu betrachten, da sich durch die Hormonumstellungen weitreichende Folgen einstellen: Die Blutgefäße verlieren die Schutzfunktion des Östrogen und die Verteilung von Blut- und Körperfettanteilen ändert sich.

Symptome:
Betrachtet man die klassischen Symptome eines ACS, gelten vor allem solche, die sich aus der Forschung an männlichen Patienten ergeben haben15Lademann, Julia; Kolip, Petra; Deitermann, Bernhilde; Bucksch, Jens; Schwarze, Monika (2005): Gesundheit von Frauen und Männern im mittleren Lebensalter. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Robert Koch-Inst (Gesundheitsberichterstattung des Bundes). Online verfügbar unter http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0257-1002087.. Der sogenannte „Hollywood-Herzinfarkt“ bildet einen älteren, leicht übergewichtigen, weißen Mann ab, der sich mit blassem Gesicht an die Brust fasst und zusammensackt. Die Symptome bei Frauen äußern sich oft nicht nur durch heftige Brustschmerzen und dessen Ausstrahlung in den linken Arm, Kiefer und Rücken. Sie präsentieren vor allem in der Zeit vor der Menopause Symptome wie Bauchschmerzen, Übelkeit und Kurzatmigkeit. Die Ergebnisse einer 2012 veröffentlichte Studie der AHA machten das Fehlen von Brustschmerzen beim Akuten Koronarsyndrom dafür verantwortlich, dass deutlich mehr Frauen als Männer im Krankenhaus starben. Bei Patient*innen, die nie Brustschmerzen angegeben haben, war die Wahrscheinlichkeit zu sterben fast doppelt so hoch.

In der beigefügten Tabelle werden die Geschlechtsunterschiede der Symptomatik einer Myokardischämie deutlich16Seeland, U.; Eifert, S.; Regitz-Zagrosek, V. (2012): Genderaspekte bei koronarer Herzerkrankung. In: Z Herz- Thorax- Gefäßchir 26 (3), S.150–159. DOI: 10.1007/s00398011-0908-0..

Auch im Bereich der apparativen Diagnostik und Medikation – sowohl präventiv als auch im Notfall – ziehen sich die Erkenntnisse der Gender Data Gap weiter wie ein roter Faden durch das Gebiet der Koronaren Herzkrankheiten. Für interessierte Leser*innen und Hörer*innen unseres Podcasts hat Steffi und ein paar Literaturempfehlungen mitgebracht:

  • Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die
    Hälfte der Bevölkerung ignoriert
    . Criado-Perez, Caroline; Singh,
    Stephanie (2020). Deutsche Erstausgabe. München: btb.
  • Doing harm. The truth about how bad medicine and lazy science leave women dismissed, misdiagnosed, and sick. Dusenbery, Maya (2018). 1. Auflage. New York, N.Y.: HarperOne.
  • Gendermedizin. Warum Frauen eine andere Medizin brauchen. Regitz-Zagrosek, Vera; Schmid-Altringer, Stefanie (2020). 1. Auflage. München: Scorpio Europa Verlag.
  • Bairey Merz, C. Noel (2011). The single biggest health treat women face. [Video]. TED Conferences. Online verfügbar unter https://www.ted.com/talks/noel_bairey_merz_the_single_biggest_health_threat_women_face, zuletzt geprüft am 27.01.2020.
  • Geschlecht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Warum wir Gendermedizin brauchen

Regitz-Zagrosek,V. In Der Internist 58 (4), S. 336-343.

  • Schlagen Frauenherzen anders? Regitz-Zagrosek,V. & Espinola-Klein, C. In Kardio up 2 (3), S.255-269.

Welche Erkenntnisse nehmen wir also für die Arbeit im Rettungsdienst mit?

Hier ein kurzes Akronym, um die wichtigen Unterschiede und Anpassungen bei der präklinischen Versorgung und Diagnostik nicht zu vergessen:

  • Die Stabile Angina Pectoris tritt erst unter Belastung auf. Die Belastungsschwelle ist dabei – je nach Patient*in – individuell
  • Die instabile AP, der STEMI und der NSTEMI sind präklinisch unter der Arbeitsdiagnose ACS zusammenzufassen
  • Bei Verdacht auf ein kardiales Ereignis ist innerhalb der ersten 10 Minuten die Diagnostik mittels 12-Kanal-EKG durchzuführen! Hier ist es wichtig, das EKG auch auszudrucken
  • Eine stetige Überwachung der Vitalwerte und konsequentes Monitoring sind ab Erstkontakt bis in die aufnehmende Klinik unbedingt erforderlich, um Komplikationen zu detektieren
  • Aspirin und Heparin wirken auf zwei unterschiedlichen Wegen auf die Blutgerinnung.
  • Die langläufig etablierte Dosierung von 500mg / 5000IE entspricht nicht den Empfehlungen der Leitlinien
  • Die Symptome bei Frauen unterscheiden sich von denen der Männer. Eine differenzierte Betrachtung der Anzeichen auf ein ACS kann nachweislich die präklinische Sterblichkeit reduzieren
  • Bei Frauen mit ACS-Symptomatik hilft das Akronym FRAU, um die wesentlichen Unterschiede nicht aus dem Auge zu verlieren

Quellen & Literatur[+]

Melanie Schuler
Folge uns Melanie Schuler:

Frische 35 Jahre, Notfallsanitäterin, Praxisanleiterin, OrgL RD, Lehrkraft

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